Irgendwas ist ja immer...
Unser Freund Rob ist tot.
Einfach so. Wir waren noch zum Essen verabredet mit ihm und seiner tollen Frau Mirelle, in dem kleinen Strandrestaurant, wo man mit den Füßen im Sand sitzt und lecker Rotwein trinken und über Robs lustiges Deutsch lachen kann. Rob ist nämlich Holländer.
Und dann hat das Telefon geklingelt und Mirelle war kaum zu verstehen, weil sie vor lauter Schluchzen nicht sagen konnte, dass es Rob nicht mehr gibt.
Drei Tage später haben wir von ihm Abschied genommen. Erst einmal im Sterbehaus. Das ist hier in Frankreich so etwas wie ein Aufbahrungshaus, in dem die Toten verbleiben, bis sie bestattet werden.
Es ist 12 Uhr und ein heißer Tag im September, als wir auf den Vorhof des Sterbehauses fahren. Kein Baum spendet dort Schatten und Robs Familie, seine Freunde und Mirelle, die Herrn de Fries völlig abwesend an der Leine hält, als wäre er ein Steiftier und nicht Robs flauschiger kleiner Hund, stehen traurig in der prallen Sonne und warten. Auf unsere Frage: "Worauf warten alle?" erfahren wir, dass der Wagen, der Rob zum weit entfernten Krematorium bringen soll, noch nicht da ist. Die Fahrer müssen erst zu Mittag essen.
?????????
(Eine Erklärung: Wir sind in Frankreich und der Leser weiß inzwischen, dass das Mittagessen in diesem Land in etwa so heilig ist, wie der Ramadan für die Moslems). Es ist eine Erklärung, eine Entschuldigung ist es nicht. Man kann nicht 20 Menschen in der Mittagssonne stehen lassen, weil man essen möchte. Nichtfranzosen halten es immerhin für eine Möglichkeit, vorher oder hinterher zu essen - sozusagen: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen...
Ich nehme daher erstmal meinen ganz persönlichen Abschied von unserem Freund Rob und versichere ihm, was für ein toller Typ er war und was für ein lieber Freund. Ich bin unendlich traurig, weil Robs Seele sich natürlich schon auf eine lange Reise begeben hat und sein Gesicht nicht mehr verschmitzt lächelt und seine Augen nicht mehr blitzen. Es ist, als läge auf der Bahre nur eine Hülle.
Als die zwei Leichenwagenfahrer dann endlich eintreffen, verschwinden sie mit wichtigem Gesicht im Sterbehaus. Danach - geschieht nichts.
Wir alle warten weiter. Mittlerweile wird die Zeit knapp, weil es bis zu dem Krematorium in dem kleinen Örtchen Vidauban noch eineinhalb Stunden Fahrtzeit sind und irgendwie muss man ja auch im Zeitplan bleiben. Selbst in Frankreich.
Herr de Fries ist inzwischen völlig durch den Wind, sein Herrchen fehlt ihm und sein Frauchen ist im Moment nicht von dieser Welt. Außerdem hat er Durst. Wir haben in unserem Auto immer eine Hundeschale für Wasser dabei und da es im Sterbehaus einen Wasseranschluß gibt, kann ich die Schale vollfüllen und Herr de Fries säuft, als wäre er durch die Wüste gelaufen.
Endlich fragt jemand von den Freunden, warum es jetzt immer noch nicht los geht. Die Antwort: Erst muss ein Polizist den Leichnam freigeben, bevor der Sarg geschlossen wird. Und der Polizist ist - beim Mittagessen!
Irgendwann muss er aber mit Vorspeise, Hauptspeise und Dessert fertig geworden sein, denn er fährt wichtig vor, verschwindet ebenfalls wortlos im Sterbehaus und nach fünf Minuten fährt der Leichenwagen mit nunmehr fast zwei Stunden Verspätung los.
Ich setzte mich hinter's Steuer und fahre mit dem Mann an meiner Seite dem Konvoi hinterher. Vor uns fährt eine Freundin des Hauses in einem uralten klapperigen Renault und wir hoffen, sie wird die ganze Strecke unbeschadet überstehen.
Jetzt passiert Folgendes:
Um den Zeitverlust aufzuholen, jagt der Fahrer des Leichenwagens das Gefährt über die Piste, durch Kreisverkehr und über die gemeinen Schikanen, die auf Frankreichs Straßen verhindern sollen, dass die Autofahrer in den Ortschaften mit 80 Sachen Kinder und Rentner gefährden. Mit Schrecken dachte ich daran, wie es würde, wenn wir die gefährliche Serpentinenstraße nach Vidauban erreicht hätten. Gott sei Dank hetzte die Freundin aus dem klapperigen Renault ihre Tochter mitten auf dem verkehrsumtosten Kreisverkehr nahe St. Tropez bei Rot vorn zum Leichenwagen, um dessen wahnsinnigem Fahrer mitzuteilen, dass bei einer derartigen Geschwindigkeit ihr Wagen schlappmachen würde.
Endlich schlug man ein etwas gemäßigteres und würdevolleres Tempo an, um mit ca. 1 1/2 Stunden Verspätung in Vidauban anzukommen.
Wir wurden sehnsüchtig erwartet.
Nicht nur von den Angestellten des Krematoriums, die mit ihrem Zeitplan völlig durcheinander gekommen waren, sondern auch von der nachfolgenden Trauergesellschaft. Vorwurfsvolle Blicke trafen uns, während drei ehemalige Kameraden des dortigen Verstorbenen in Uniformen gekleidet waren, die an eine Truppengattung der schweren Kavallerie erinnerten. Einer trug die "drapeau tricolore", die französische Flagge und es war ihm anzusehen, dass hier ein äußerst wichtiges Mitglied der französischen Gesellschaft zu Grabe getragen werden sollte.
Robs letzte Feier auf Erden wurde dann in rasender Eile vorgenommen, ein Freund der Familie hielt eine kleine Rede, teils auf holländisch, teils auf französisch. Ich verstand beides nicht, sah aber indessen, dass jemand in den Wassernapf für Herrn de Fries getreten war, welchen ich ihm vorsorglich schnell hingestellt hatte. Auch auf der langen Autofahrt hatte eine Bullentemperatur geherrscht. Vor Schreck stieß ich einen lauten Seufzer aus, so dass die Frau neben mir mich sorgenvoll ansah und mein Mann mich vorsichtshalber am Arm festhielt.
Aber als zum Schluß der Ansprache Mirelles Abschied "Mon Ami, mon Amour" vorgelesen wurde, liefen mir meine Tränen ungebremst über das Gesicht.
Draußen tranken wir alle einen Schluck Champagner, Rob hätte es so gewollt und Mirelle wurde so oft in die Arme genommen, dass ihre schmale Gestalt Schaden zu nehmen drohte. Aber irgendwann gegen drei Uhr nachmittags forderte unser aller Magen sein Recht (im Gegensatz zu dem Polizisten hatten wir noch nichts gegessen), unsere englische Freundin Jane murmelte ebenfalls: "Oh, so hungry" und so verfrachteten wir sie in unser Auto, um auf dem Rückweg in La Garde Freinet, einem hübschen Gebirgsstädtchen, eine Kleinigkeit zu essen.
Dies allerdings erwies sich als unmöglich. La Garde Freinet lag in seiner ganzen Schönheit sanft verschlafen in der sommerlichen Hitze da - kein Restaurant hatte geöffnet, alle Läden waren geschlossen. So lauerten Jane und ich vor einem Bäckereiladen, bis er um vier endlich öffnete, während der Mann an meiner Seite schon mal Café au lait in einem Bistro orderte. In Windeseile stopften wir zuckersüße Törtchen in uns hinein und spülten mit starkem Kaffee alles hinunter.
Danach war uns übel.
Den Rest des Tages verbrachten wir in erschöpftem Schweigen.
Sterben ist nichts für Feiglinge, für die Hinterbliebenen allerdings auch nicht.
Wir hofften, die Zeit danach würde für Mirelle erträglich...
Kommentar schreiben